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Nino Haratischwili: Das achte Leben

|Erstveröffentlichung 2022| Literatur & Film durch das Sternenglas betrachtet Teil 5


Das Buch erstreckt sich über mehrere Generationen. Es kommt darin alles vor, alles, was die Astrologie zu bieten hat. Besonders hervor tat sich beim Lesen für mich aber das Element Erde.

Klar, kommen aber ALLE Elemente irgendwie vor, wie im richtigen Leben halt auch. Neben den Träumen des Wasserelements, die jede im Buch vorkommende Person im Herzen trägt, kommt Feuer vor. Feuer ist Gestaltungswille für ein selbstbestimmtes Leben. Luft kommt vor: Alternativen zum Status Quo finden und überhaupt erstmal denken können – diese Fähigkeit verleiht uns und den Romanfiguren das Luftelement.

Erde ist Tatsache. Und Erde lässt Träume platzen, beschneidet Gestaltungswillen und begrenzt Möglichkeiten. Die Menschen im Buch haben mit unfassbar vielen Tatsachen zu kämpfen. Geschaffen von anderen Menschen und vom Leben an sich. Haratischwili ist eine begnadete Erzählerin, der man bald nicht mehr von den Seiten weichen mag. Ihr sehr dicker Schmöker und die von ihr erzählten Schicksale lassen am Ende eine staunende Leserin zurück, der keine Seite zu viel dabei war.

Unter ihren Zeilen entsteht ein Charakter nach dem anderen lebendigst vor unseren Augen. Jedes Leben verfolgen wir mit Staunen unter höchster Anteilnahme. Es beginnt im Jahr 1900 mit der Geburt von Stasi, der Ururgroßmutter des heute lebenden Teenagers Brilka. Stasi bleibt in dieser fast hundert Jahre währenden Erzählung präsent und lebendig. Aber: nacherzählen geht nicht, nicht bei vier Generationen, Kriegen, so vielen Träumen, so vielen verschiedenen Leben, die sich alle beeinflussen oder voneinander abhängen, sich lieben, sich retten wollen oder in sich gefangen sind und von irdischen Tatsachen hin und her geschüttelt werden.

Gleichwohl ist Erde das Element, aus dem wir unser irdisches Leben stricken und auf dem wir das Resultat unserer Träume, unseres Wollens und Planens erbauen. Manchmal ist es aber wenig, was bleibt, wenn die Tatsachen um uns herum zuschlagen. Manchmal ist es nur das nackte Leben, welches bleibt. Aber auch auf dieser Tatsache lässt sich möglicherweise wieder etwas Neues aufbauen.

Unsere Protagonist*innen verzweifeln angesichts der Hindernisse fast erstaunlich wenig. Sie halten aus, finden neuen Mut, verschätzen sich mit ihren Möglichkeiten und dulden zwangsläufig Konsequenzen – und halten wieder aus. Sind wir im Wesentlichen nicht alle ganz genau so?


Ich merke, dass ich davor zurückscheue, hier zu berichten, um was es WIRKLICH im Buch geht. Denn die Tatsachen sind so deprimierend, dass ihr das Buch vielleicht gar nicht in die Hand nehmen wollt, wenn ich schreibe: Es geht um Krieg, um lange, lange Jahre während vieler kriegerischer Ereignisse. Die einzelnen Familienmitglieder sind sehr verschieden in die Ereignisse involviert, aber alle sind davon betroffen.


Zum Erdelement gehört natürlich in erster Linie das Wasserelement. Immer stehen sich ein Erdzeichen und ein Wasserzeichen im Tierkreis gegenüber. Stier mit Skorpion, Jungfrau mit Fische, Steinbock mit Krebs. Zu Krebs gehört es, zu fühlen und mit anderen mitzufühlen. Zu den Fischen gehört es, sich ins Schicksal fügen zu können. Besonders ins Auge sticht bei den Ereignissen im Buch das dritte Wasserelement, der Skorpion. Einige üben Macht aus und schaffen so Tatsachen für die anderen. Wasser und Erde gehören zusammen. Skorpion ist die Macht, die dir von außen begegnet. Wenn deine Macht zu gering ist, musst du die Konsequenzen in Form der von anderen geschaffenen Tatsachen erdulden.

Es scheint ein Prinzip dieser Welt zu sein, dass es immer Kriegstreiber, Kriegsgewinnler, Mächtige, Lobbyisten, kranke Gemüter und Wahnsinnige gibt, die für andere bedrückende Lebensumstände schaffen, indem sie Macht zentrieren und Kriege führen. Daran kann man manchmal nur verzweifeln. Oder wir retten, was wir können: Sei es nur eine kleine wässrige Illusion in unseren Herzen oder einen manchmal kaum sichtbaren Überlebenswillen oder die fast verschüttete Idee, dass es auch anders gehen kann.

Literarisch zwar weniger wertvoll, nichtsdestotrotz überaus passend teile ich hier die Ostergeschichte, die mir Ingrid sendete. Keine Ahnung, von wem diese ist:"Es tobte ein furchtbarer Orkan, der das Meer aufwühlte. Riesige Wellen brachen sich ohrenbetäubend laut am Strand. Als der Sturm langsam nachließ, klarte der Himmel wieder auf. Am Strand lagen unzählige Seesterne, die die Brandung herangespült hatte. Ein kleiner Junge lief am Strand entlang, nahm vorsichtig Seestern für Seestern in die Hand und warf sie zurück ins Meer. Da kam ein Mann vorbei und sagte: „Du dummer Junge! Was du da machst, ist vollkommen sinnlos. Siehst du nicht, dass der ganze Strand voll von Seesternen ist? Die kannst du nie alle zurück ins Meer werfen! Was du da tust, ändert nicht das Geringste!“ Der Junge schaute den Mann überrascht an. Dann ging er zu dem nächsten Seestern, hob ihn behutsam auf und warf ihn zurück ins Meer. Den Mann ließ er wissen: „Für diesen hier wird es etwas ändern!“

„Das achte Leben“ ist nicht immer so klar optimistisch. Es ist bewegend, aber es ist trotzdem nicht niederdrückend. Ich weiß noch nicht genau, wie Haratischwili das machte, dass ich immer, immer wissen wollte, wie die Figuren weitermachen würden. Ich habe durchaus Bücher aus der Hand gelegt, die mir zu niederdrückend schienen und welche ich niemals weiterempfehlen würde. „Das achte Leben“ gehört nicht dazu, es hat meine klare Leseempfehlung. Irgendwie bleibt übrig: Leben ist Leben, ist unser Leben. Lebe! Und wirf ab und zu einen Seestern zurück ins Meer.

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